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Arbeiten von unterwegs

Sven in Brasilien: Warum man seine Reise nicht planen sollte

Inhaltsverzeichnis

Sven, du lebst in Rio Grande do Sol in Brasilien. Wie lange bist du schon unterwegs und warum hast du dich für ein Leben außerhalb von Europa entschieden?

Warum ich mich für ein Leben außerhalb Europas entscheiden habe? Um ehrlich zu sein: Habe ich mich eigentlich gar nicht. Es ist mehr oder minder „passiert“. Die Geschichte hinter meinem Auslandsaufenthalt ist eher eine vom Zufall als von bewusster Lebensplanung.

Meine Freundin beschreibt es oft mit folgenden Worten: Meine Pläne gehen immer komplett schief, und gehen im Endeffekt doch irgendwie auf. Nur eben auf komplett andere Art und Weise. Mein Aufenthalt in Brasilien ist ein Paradebeispiel dafür.

Nach meinem Studium habe ich mich auf Backpackreise begeben, mit dem (mittelfristigen) Ziel, Lateinamerika per Anhalter zu erreichen. Inmitten meiner Backpackreise habe ich in Spanien ein Mädchen kennen gelernt. Wie es das Herz so wollte, ist man nach ein wöchiger Bekanntschaft weiter in Kontakt geblieben, über den weiteren Verlauf meiner Reise hinaus. Bis hin zum Beginn der Pandemie, in der sie bei meinen Eltern und mir eingezogen ist.

Nach 4 Monaten Aufenthalt in Deutschland und dem Abklingen der ersten Covid-Welle ist ihr verlängertes Europavisum abgelaufen und sie musste in ihr Heimatland zurückkehren: Brasilien. Den Rest wirst du dir unschwer ausmalen können. Nach einiger Zeit der Unsicherheit und des Zögerns habe auch ich meinen Koffer gepackt und einen Flug nach Brasilien gebucht, um mit ihr zusammenzuziehen. Das war im Oktober 2020.

Im Endeffekt habe ich also mein ursprüngliches Backpack-Reiseziel Lateinamerika „erreicht“. Auch wenn nicht per Boot, Anhalter und mit Backpack, sondern mit Koffer, Laptoptasche und Flugzeug.

Um damit eine spätere Frage vorwegzunehmen: Wenn ich ein Learning aus meiner Reise mitnehmen kann, dann, dass Pläne und Ziele höchstens als Richtungsweiser dienen können. Da nichts im Leben unserer vollen Kontrolle unterliegt, sind Pläne eigentlich immer zum Scheitern verurteilt. Meistens sind es nicht wir, die Entscheidungen treffen, sondern der Zufall. Wir können nur auf diesen reagieren.

Du hast dir 2019 deinen Traum erfüllt: „Traveling only with my backpack, without any direction, goal and with the smallest possible budget“ – welche Erkenntnisse und Erfahrungen nimmst du aus dieser Zeit mit?

Erstens: Es ist vollkommen schnuppe, wohin du gehst: Du wirst dort hilfsbereite, inspirierende und gute Menschen antreffen. Du weißt schon, unabhängig von Hautfarbe, Kultur, ethnischem Background, Geschlecht, sexueller Ausrichtung, Lieblings-Pokémon … Welche Kriterien und Unterscheidungsgrundlage man auch immer anlegen möchte.

Zweitens: Das Festhalten und detaillierte Zurechtlegen von Plänen ist nur für folgendes gut: Verbissenheit, Stress, Unfähigkeit mit den jeweiligen Möglichkeiten zu gehen, eigene Limitierung und Kopfschmerzen. Vor allem, wenn es dann mal nicht so läuft, wie es laufen hätte sollen.

Ein Beispiel: Wie bereits erwähnt, war es mein Reisemotto, lediglich per Anhalter zu reisen. An einem Morgen an einer wenig befahrenen Kreuzung in der Nähe von Lorca (Spanien), hielt ein Auto mit 2 älteren Damen, die mir eine Fahrt anboten. Da ihr angefahrenes Reiseziel – Granada – allerdings nicht mit meiner „Wunschroute“ übereinstimmte, lehnte ich dankend ab.

Resultat: Ich wartete 9 weitere Stunden auf eine Mitfahrgelegenheit. Ohne, dass auch nur ein weiteres Auto stehen blieb. Im Endeffekt blieb mir aus lauter Frustration nichts anderes übrig, als meine „Anhalter-Regel“ zu brechen und ein Blablacar zu buchen – das Einzige, welches verfügbar war, nach Granada. Genau dorthin, wohin mich die beiden Damen 9 Stunden zuvor hatten mitnehmen wollen.

Drittens: Die schönsten, idyllischsten und authentischsten Orte sind nicht jene, die man in Reiseführern und Travel Blogs findet, sondern über die man durch Zufall stolpert.

Viertens: Franzosen haben lustige Regeln, was das Schneiden von Käse angeht.

Fünftens: Wusstest du, dass Hitchhiken in Italien illegal ist?

Sechstens: Die Welt erscheint so viel größer und aufregender, wenn man nicht mit dem Flugzeug reist und sich somit quasi von einem Land in ein anderes beamt.

Hier allerdings eine Ergänzung: Diese Erfahrungen heißen nicht, dass ich das Gelernte alles in meinem Leben umsetzen kann. Das ist das Gefährliche bei Geschichten: sie erzählen sich leicht und eindrucksvoll und können so schnell ein Trugbild erzeugen.

Was hast du auf Reisen über dich und über andere Menschen gelernt?

Ich habe gelernt, dass jeder von uns seinen eigenen Werdegang, seine eigene Geschichte und seinen eigenen Hintergrund mit sich bringt. Jede Lebensgeschichte ist einzigartig, mit ihren eigenen Highlights und Tragödien. Es gibt unfassbar viele interessante, spannende und inspirierende Menschen auf dieser Welt, von denen du niemals hören wirst. Und letztlich: ganz egal, wie sehr du versuchst, dein Leben mit Ergebnissen vollzupacken, du wirst nie alles sehen und erleben können. Möchtest du überall und alles sein, wirst im Endeffekt nirgends und niemand sein.

Wie kommst du in Brasilien zurecht? Gibt es Momente, in denen du dich nicht zugehörig fühlst?

Tatsächlich nein! Von Tag 1 habe ich mich hier willkommen und aufgenommen gefühlt. Ob das mitunter daran liegt, dass der Süden Brasiliens ein deutsches Kolonialgebiet war und gefühlt jeder hier mindestens einen Opa oder eine Oma hat, die Deutsch sprechen? Vielleicht.

Aus meiner Erfahrung (alles aus der Perspektive eines weißen, blonden Cis-Mannes) kann ich sagen, dass Brasilien ein unfassbar gastfreundliches und herzliches Land ist. Statt Abneigung und Entfremdung wird einem mit Neugier und Interesse begegnet. Anfeindungen habe ich noch nicht einmal erlebt.

Höchstens vielleicht in gespielter Enttäuschung, dass ich für einen Deutschen unfassbar klein bin (1.74m) und dann auch noch wenig Bier trinke! Man kann nun mal nicht jedem Stereotyp gerecht werden.

Wie sieht ein normaler Arbeitsalltag bei dir aus?

Ziemlich unaufregend: Zwischen 4 und 5 Uhr klingelt der Wecker. Nicht, weil ich Teil des gepriesenen „5am Clubs“ bin oder wegen der klassischen Produktivitätsklausel: „Der frühe Vogel fängt den Wurm“. Sondern schlichtweg auf Grund der Zeitverschiebung. Danach schäle ich mich aus dem Bett, unterschiedlich schnell, je nachdem wie häufig ich die Snooze-Funktion meines Handyweckers betätigt habe. Danach Morgentoilette, Kaffee aufsetzen und 5 bis 10 Minuten Meditation. Laptop meistens im Schlafzimmer aufklappen. 5 Stunden arbeiten. Feierabend. Klappe zu, Affe tot. Hat hier jemand was davon gesagt, dass Remote Work immer aufregend sein und am Pool stattfinden muss?

Welchen Rat gibst du Menschen, die einen ähnlich ortunabhängigen Lebensstil anstreben?

Ich denke, hier gibt es nicht „den einen Rat“. Es kommt stark auf die eigenen Lebens- und Reisevorstellungen sowie das Budget an. Vielleicht aber diesen: reise nicht wie doof von Ort zu Ort im Tages- und Wochen-Rhythmus. Gib einem Ort seine Zeit.

Während andere Menschen eine ganze Wohnung voller Sachen haben, hast du nur einen Rucksack. Was nimmst du mit, wenn du einen Ort für immer verlässt?

„Nur einen Rucksack“ ist hier vielleicht etwas übertrieben. Das traf vielleicht auf meine Backpackreise zu, sicherlich aber nicht auf mein Leben als Remote Worker. Allein mein Arbeitsmaterial ist bereits ein mittelgroßes Handgepäckstück. Dazu kommt ein Koffer mit Klamotten, Notizbüchern und essenziellem Trainingsequipment wie einem Sling-Trainer.

Minimalismus bedeutet nicht nur wenig zu haben, sondern vor allem sich auf das Nötigste zu beschränken. Was dabei nötig und unnötig ist, das bleibt im Endeffekt jedem selbst überlassen. Für den Süden Brasiliens gilt zum Beispiel: es kann hier echt kalt werden! Für den Bali-Backpacker sind Winterjacken überflüssig. Bei 0 Grad laufe ich aber nicht gerne in Hawaii-Shirt und Flipflops rum.

Was ich immer mitnehme: ein paar frische Socken, Zahnbürste und Wechselunterwäsche. Über alles andere lässt sich streiten und ist abhängig von der Art der Reise. Etwas Persönliches, das mich allerdings immer begleitet, ist ein Notizbuch, in dem ich meine Gedanken und Erkenntnisse niederschreibe.

Welche drei Dinge sind deiner Meinung nach im Hinblick auf Zufriedenheit überbewertet? Was macht dich im Leben zufrieden?

Wow, wirklich gute Frage… Du meinst unabhängig vom neusten Iphone 650 + ultra?

Vielleicht generell die Maxime des ultimativen Lebens. Dazu gehört auch der Anspruch, die ganze Welt bereisen zu müssen. Und da schließe ich mich als Mensch mit ein. Der Antrieb zu immer mehr und immer weiter. Ob konservativ Geld und Zertifikate oder auch die Anzahl an bereisten Ländern, inspirierender Arbeitsorte, Fotos besonderer Momente und Instagram Follower.

Was mich im Leben zufrieden macht? Auf diese Frage könnte ich tausend Antwortversuche geben, ohne die Frage je richtig zu beantworten. Ich denke nicht, dass ich meine alleinige Antwort gefunden habe. Auch bin ich mir nicht mal sicher, ob es überhaupt die eine geben kann, als vielmehr verschiedene für verschiedene Lebensabschnitte.

Welche Sprachen sprichst du? Gibt es etwas, was du noch lernen möchtest?

Deutsch, Englisch und Portugiesisch.

Was ich lernen möchte? Vieles! Alles? Auch hier könnte ich mich nicht auf eine Sache festlegen. Mein Problem ist eher das Setzen von Prioritäten und mich nicht in zu vielen Interessen und Projekten zu verlieren.

Wo wärst du, wenn du dich nicht für Brasilien entschieden hättest? Und welche Länder möchtest du noch bereisen? Warum?

Tatsächlich habe ich mich ja gar nicht für Brasilien „entschieden“. Vielleicht ist das die zentrale Botschaft, die ich mitgeben kann: man muss nicht immer alles planen und entscheiden. Da ich zudem nicht mal die Frage beantworten kann, wo ich mich in Zukunft befinden werde, ist die Beantwortung der Frage, wo ich anderenfalls wäre, quasi unmöglich.

Was die Frage nach meinen Reiseziele anbelangt: Ganz bescheidenerweise die ganze Welt (Stichwort Lebensmaxime und so). Jedes Land hat etwas Aufregendes und Besonderes an sich, weswegen ich es bereisen möchte (Kultur, Landschaft, Küche, Sitten, unterschiedliche Realitäten, differente Lebensphilosophien, etc.)

Um dir aber trotzdem Beispiele zu nennen: an oberster Stelle steht Brasilien. Zwar lebe ich in diesem Land, allerdings ist es so groß und divers, dass man von vielen Ländern in einem sprechen kann. Gefolgt von Ländern wie: Kolumbien, Bolivien, Marokko, Mongolei, etc.

Was für mich das Reisen generell ausmacht: zum einen wird einem bewusst, wie groß und divers dieser Planet ist. Und zum anderen, dass egal wohin wir reisen, wir immer auf menschliche Wesen treffen, mit denen wir Gemeinsamkeiten haben. Ganz egal, wie unterschiedlich unsere Lebensgeschichten und Kulturen sind. Das lässt uns erkennen, dass wir alle gar nicht so verschieden sind und lässt uns als Menschheit näher zusammenrücken.

Vielen Dank für das Interview, Sven!

Sven Fraede

ist Remote Worker und wollte ursprünglich als Backpacker durch Spanien bis nach Lateinamerika reisen. Nun lebt er gemeinsam mit seiner Freundin in Brasilien.

Su Reiter

arbeitet ortsunabhängig als Marketing Director in einer Online Rechtsberatung und führt auf diesem Blog die Interviews mit digitalen Nomaden. Sie hat die erste Austauschgruppe für digitale Nomaden im deutschsprachigen Raum auf LinkedIn ins Leben gerufen.

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